Böhmermann sorgte mit seinem Schmähgedicht für Aufregung und Solidaritätsbekundungen, weil man durch das jetzt anstehende juristische Verfahren die Freiheit der Meinung, Presse und Kunst in Gefahr sieht. Alle schreien ganz laut ihre Kritik über Merkels Verrat an eben diesen Freiheiten heraus, ob berechtigt oder unberechtigt ist erst einmal gar nicht das Thema. Es schreien auch jene, die eigentlich gerade erst am vergangenen Donnerstag genau diese Freiheit der Meinung und der Presse im EU-Parlament an Unternehmen und Despoten verkauft haben.
Sicherlich: In der Causa Böhmermann hat die Kanzlerin insbesondere im Vorfeld massive Fehler begangen, ob aus einer schlechten Beratung heraus oder aus voraneilendem Gehorsam gegenüber einem sehr speziellen Präsidenten eines befreundeten Landes und NATO-Partners oder auch aus eigener Überzeugung sei dahingestellt, denn es ist belanglos - wie die gesamte Böhmermann-Affäre.
Das EU-Parlament hat am Donnerstag eine EU-Richtlinie zum "Schutz von Geschäftsgeheimnissen" durchgewunken, die demnächst, wie bei EU-Richtlinien üblich, in jeweils nationalem Landesrecht umgesetzt werden muss. Die Richtlinie besagt, dass Unternehmen und Institutionen aller Art den Umfang ihrer Geschäftsgeheimnisse selbst bestimmen dürfen und damit selbst festlegen dürfen, was öffentliches Interesse ist und was nicht. Diese Richtlinie richtet sich allerdings nicht nur gegen die Presse- und Meinungsfreiheit, sondern auch und insbesondere gegen Arbeitnehmervertretungen - und die Snowdens dieser Welt, die Whistleblower. Auch Verbraucherschutzorganisationen sind dann von dieser Richtlinie betroffen, wie auch Datenschützer.
Mit dieser Richtlinie hat die EU einen Riesenteppich gewebt, unter dem nahezu jeder Missstand gekehrt werden kann. Diese Richtlinie ist in ihren Dimensionen kaum zu erfassen und bisher wird die Dimension auch nicht erfasst. Whistleblowing, Kommunikation über Missstände, Offenlegungen von Fehlern, Betrug, Schmiergeldaffären und ähliches ist out und künftige Panama-Papers, über die derzeit einige stolpern, wird es straffrei in Kürze nicht mehr geben. Das Recht auf Information wurde damit nahezu auf Null geschliffen. Es wurde eine wirtschaftsorientierte Form der US-Patriot-Acts geschaffen. Omertá, das Kartell des Schweigens.
Betrachtet man dies, so dürfte manchem klar werden, dass es nicht wirklich Erdogan ist, der unsere Freiheiten schleifen möchte. Erdogans Motiv ist lediglich der eigene Machterhalt und in Anbetracht der Masse von türkischen Wahlberechtigten in unserem Land eigentlich nur eine logische Konsequenz. Erdogan ist ein kleiner Despot, der seine politischen und wirtschaftlichen Pfründe sichern will. Bei der EU geht es hingegen um den großen Schnitt. Bis auf wenige Stimmen bleibt der Protest gegen die Richtlinie insbesondere in den sozialen Netzwerken nahezu vollkommen aus. Das künstliche Aufbauschen in der Sache Extra3/Böhmermann hat also konsequent geholfen.
Umso mehr Grund, die Sache jetzt in aller Ruhe der Gerichtsbarkeit zu überlassen und anderen wieder mehr auf die Finger zu schauen. Wir dürfen nicht vergessen, dass demnächst die Fußball-EM in Frankreich stattfindet, dass nächste geeignete Ereignis, unliebsame Dinge dank Ermangelung von Aufmerksamkeit durch die Parlamente zu prügeln.
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