21.09.2015

Wo geht's hin ... - Eine Spektralanalyse unserer Ängste

Die Angst geht um in unserem Land. Angst vor Überfremdung. Angst vor dem Islam. Angst vor allem, was fremd ist oder auch nur im Ansatz fremd sein könnte. Und nein, es betrifft nicht nur Flüchtlinge.
Es betrifft die generelle Angst vor Veränderungen in unserer Gesellschaft. Es betrifft den Traum von einem vereinten grenzenlosen Europa. Es betrifft profane Dinge, wie die Homo-Ehe. Es betrifft die Zuwanderung fremder Kulturen und Religionen in unser Land.
Man spricht plötzlich von einer jüdisch-christlichen Kultur, von einer Islamisierung des Abendlandes und diese Ängste werden nicht nur von Menschen aus dem Dunstkreis von Pegida, AfD oder gar NPD geschürt und propagiert. Nein, das sind nur die Narren, die sich laut dazu äußern und es mittlerweile schaffen, die besorgten BürgerInnen ganz in ihrem Interesse auf die Straße zu bekommen und die Pyromanen von Tröglitz und anderen Orten zu ihren willigen Handlangern zu machen, auch wenn sie selbst alle Schuld von sich weisen. Aber was ist Schuld? Verantwortung ist mindestens eine Teilschuld und Verantwortung tragen diese Propagandisten alle mal am Geschehen.

Diese Propagandisten gibt es aber auch auf etablierten politischen Ebenen, insbesondere in der bayrischen CSU. Bayern, Traditionsbetrieb der rechten oder etwas netter ausgedrückt: der urkonservativen Lebenskultur. Bayern, und das ist der krasse Gegensatz zur Politik der CSU, leistet allerdings gerade jetzt in der Flüchtlingskrise Elementares. Auch das und gerade das muss man erwähnen. Regional in den bayrischen Gemeinden, insbesondere in den Grenzgemeinden zu Österreich, wird derzeit Großes geleistet. Umso unverständlicher ist es, dass die CSU in persona ihres Vorsitzenden Horst Seehofer eigentlich diesen Gemeinden und den HelferInnen mit ihren Parolen ins Rektrum tritt und die großen Leistungen der einzelnen Kommunen und Landkreise damit wieder heftigst relativiert.

Ja, es ist die Angst vor Veränderung. Aber diese Angst ist nicht für alle Probleme gedacht. Angst vor neuer Technik gibt es in unserem Land kaum, im Gegenteil: Negative Ergebnisse neuer Technik werden nahezu kritiklos hingenommen. Gegen Datenkraken wie Facebook oder Geheimdienste wie BND oder NSA ist in Heidenau noch keine wütende Menschenmenge auf die Strasse gegangen, im Gegenteil. Facebook und Google werden fleissig zur Verbreitung der eigenen kruden Hetze genutzt, dabei sind diese technischen Veränderungen in unserer Gesellschaft viel elemantarer und gefährlicher, wie es ein Flüchtling nie sein könnte. Die technische Entwicklung hat unsere freiheitlich-demokratischen Grundwerte bereits in massiver Form angegriffen. Die so vor zwanzig Jahren hochgelobte allseitige Information durch das Internet hat sich längst gegen uns gerichtet.

Nun sind aber auch nicht nur die Flüchtlinge Ziel rechtskonservativer Propaganda. Auch das Beispiel der Homo-Ehe steht für das Schüren unbegründeter Ängste in unserem Land, dabei machen uns erzkatholische Länder wie Irland vor, dass es auch anders geht. 
Hauptargument der GegnerInnen der Homo-Ehe ist das konservative Konstrukt der Familie: Mann, Frau, Kind(er). Als ginge es nur darum, den Thronfolger zu zeugen.
Genau dieses Argument kann jedoch nicht greifen, denn genau das halten wir wiederum auch den Zuwanderern vor, etwas vulgär ausgedrückt: "Sie rammeln wie die Karnickel und zeugen Kinder ohne Ende und übervölkern uns damit.".
Wenn uns soviel an der christlich-konservativen Ehe liegt, warum tun wir dies dann nicht? Wenn es genau nach dieser rechtskonservativen Auslegung geht, sollte jeder Christ mindestens fünf Kinder sein Eigen nennen und sich um die Alten kümmern. Stattdessen gibt es in unserem Land Millionen Pseudochristen, die irgendwan in grauer Kinder- und Jugendzeit Taufe und Firmung erhalten haben, sich die Kirchensteuer brav vom Lohn abziehen lassen und ansonsten die Kirche nicht von innen sehen.

Das alleine macht die Berufung auf eine christliche Kultur so verlogen und natürlich schürt dies unter gerade diesen Pseudochristen Ängste vor Muslimen, die in der Regel ihren Glauben auch ausleben. Die Muslime machen diesen Pseudochristen das eigene Versagen bewusst. Und es führt die Propaganda gegen die Homo-Ehe ad absurdum.
Bei alldem muss man auch zugestehen, dass unsere gesellschaftliche Entwicklung alles andere als familienfreundlich ist. Auch hier werden Ängste forciert, Eltern werden letztendlich gerade im Berufsleben abgehängt und bleiben oftmals auf der Strecke. Solange Eltern werden und Kind sein so unattraktiv ist, wie in unserer Gesellschaft, wird sich an unserer negativen demokrafischen Entwicklung nichts ändern. Dafür können aber auch die Zuwanderer und Flüchtlinge nichts. 
Neben diesem gesellschaftspolitischen Debakel haben die meisten Zuwanderer auch ein anderes Familienverständnis. Wer Geld verdient, sorgt für die anderen in der Familie, auch und insbesondere für die Alten. Selten werden da die Alten in Heime abgeschoben. 

Auch hier kommt man wieder zur heutigen Flüchtlingsproblematik. Eines der Hauptargumente der rechtskonservativen Propagandisten ist, dass überwiegend junge Männer hierher einwandern.Nachgedacht darüber, warum dies so sein könnte, wird hingegen nicht.
Auswandern und Flucht sind ein teueres "Vergnügen". Wer sich auf diesen Weg wagt, muss sich oft Monate, manchmal auch Jahre über Wasser halten. Das führt dazu, dass in der Regel innerhalb einer Familie nur wenige die Mittel haben, diesen Weg zu gehen und die Leistungsfähigsten diesen Weg antreten. Hier angekommen haben sie letztendlich die Aufgabe, die Familie im Heimatland über Wasser zu halten, was im Übrigen auf die Zuwanderer aus den südlichen EU-Ländern ebenso zutrifft, nicht nur auf Afrikaner, Afghanen oder Syrer.

Auch die Zuwanderer und Flüchtlinge haben Ängste. Ängste, die weit mehr begründeter sind, als unsere profanen und unbegründeten Ängste um den Verlust unserer "abendländischen jüdisch-christlichen Kultur". Es sind pure Überlebensängste. Ängste, wie die Familie oder man selbst im Bürgerkrieg überlebt oder Ängste, wie man der Familie und sich selbst das nächste Essen auf den Tisch bringt. Ängste, die man hierzulande nicht versteht, weil wir satt sind und in Frieden leben obwohl es dank rot-grüner-christlich-konservativer Niedriglohnpolitik auch hierzulande Menschen gibt, die diese Ängste tagtäglich haben. Auch dagegen geht weder in Dresden noch in Heidenau, Köln oder anderswo die Masse auf die Straße. Stattdessen treten die Betroffenen gegen die, denen es noch miserabler geht.

In unserer Gesellschaft gibt es keine Solidarität mehr und die Flüchtlingsproblematik macht dies umso deutlicher. Auch wenn sich viele derzeit für die Flüchtlinge engagieren, so ändert nichts an dieser Grundproblematik, dass nur der in unserer Gesellschaft akzeptanz findet, der sich als stark erweist. Das ist unsser aller gesellschaftlich-ideologisches Problem. So, wie wir unsere Alten in Heime abschieben, so lassen wir auch die weitab im Graben liegen, die es nicht schaffen, in diesem Trend mitzuhalten. Es ist nicht nur die Politik, welche die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer werden lässt und damit die soziale Verrohung forciert. Wir sind es auch selbst. Wir sind es, die bunte Zeitungen kaufen, die gegen Hartz4-Empfänger oder gegen Länder hetzen, denen es derzeit wirtschaftlich nicht so besonders gut geht. Wir sind es, die bei diesem infamen Spiel mitmachen und wir sind es, die insbesondere jetzt in der Flüchtlingskrise wieder die Schuldigen allein in Rechtsradikalen suchen. Deswegen finden die Rechtsradikalen mit ihren kruden Propagandamechanismen auch soviel Anklang in der Allgemeinheit: "Ich bin ja kein Nazi, aber ...".

Es ist unser ureigenster Spiegel, der uns gerade vorgehalten wird, ganz abgesehen davon, dass Europa (inkl. Deutschland) und die USA im Besonderen genau diese Flüchtlinge produziert, in dem man sich überall einmischt, versucht kleine oder große Despoten aus der Welt zu schaffen und sich den Rest zusammenbombt, bis das Chaos große genug ist, um "Divide et impera" spielen zu können.

Wir sind Opfer und zugleich Täter in diesem Spiel, weil wir es so geschehen lassen, weil wir zulassen, dass man uns gegeneinander ausspielt. Weil wir zulassen, dass uns ein Prozent der Weltbevölkerung ausnimmt, wie eine Weihnachtsgans und weil wir dann anfangen, gegen Ärmere zutreten, sobald uns dieses eine Prozent einen kleinen Happen zu wirft. Die Wegwerfgesellschaft betrifft nicht nur Dinge, sie betrifft auch insbesondere uns Menschen. Wir werfen uns selbst weg, obwohl wir uns gegenseitig brauchen. Wir sind eine Kapo-Gesellschaft, die kleine Privilegien oder Versorgungsvorteile gleich zu Tretern nach unten avancieren lässt.

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Dieses berühmte kleine Bild macht diese Situation besonders deutlich und man kann die darin enthaltenen eher arbeitsideologischen Begriffe beliebig mit gesellschaftspolitischen Begriffen wie Reiche, Arme, Politiker, Mittelschicht, Hartz4 oder Flüchtlinge belegen. Dieses Bild zeigt universell unser Problem auf der Welt.
Nur Wenige der besagten ein Prozent haben ihr Vermögen durch eigene Lebensleistung erlangt, dennoch werden sie auch von den unteren Hierarchien als "Leistungsträger" hofiert und anerkannt. Solange dies geschieht, wird sich an der Situation nichts ändern. Wir leben immer noch in einer Art Feudalismus und mit unserer Fronarbeit versorgen wir die, die uns ausbeuten und nicht die, die es benötigen. Solange wir damit einverstanden sind, dürfen wir uns nicht über Flüchtlinge wundern, die versuchen, irgendwo in Frieden einen Krümel Existenz abzubekommen, was übrigens schon immer der Hauptgrund für Bevölkerungsverschiebungen war und gerade die Freunde der jüdisch-christlichen Traditionen sollten sich hier einmal der Passage "Exodus" in der Bibel gewahr werden.

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